Wage zu träumen
7. Januar 2021
Soooo viele Reaktionen – Danke!
15. Januar 2021
Wage zu träumen
7. Januar 2021
Soooo viele Reaktionen – Danke!
15. Januar 2021
Show all

Nur wer im Gespräch bleibt, verliert nicht seine Menschlichkeit.

Hier kommt mein (sehr langer) Briefwechsel mit Rico Grimm, Chefredakteur der Krautreporter, der heute veröffentlicht wurde:

Ben Hadamowsky ist KR-Mitglied, ich bin Chefredakteur dieses Magazins. Er kritisierte unsere Corona-Berichterstattung, ich habe ihm geantwortet. Ein Mailwechsel über die Verantwortung von Journalismus in einer Pandemie.

Dieses Jahr hat viele Menschen an ihre Grenzen gebracht. Plötzlich durften wir unseren liebsten Menschen nicht mehr zu nahe kommen, plötzlich war die Vorstellung, in einen Club tanzen zu gehen, völlig absurd.
Dieses Jahr hat aber auch zu einer neuen Debatte über die Aufgaben der Presse geführt: Wie sollen wir berichten angesichts der einschneidenden Maßnahmen der Regierungen? Wo sollen Schwerpunkte liegen? Diese Debatte haben wir intern in der KR-Redaktion immer wieder geführt, aber auch mit einzelnen Mitgliedern von Krautreporter. Eines dieser Mitglieder kenne ich gut, ich würde sagen, wir sind Freunde. Wir waren vor vier Jahren mal gemeinsam für einen Artikel segeln. Ben Hadamovsky heißt er.

Und so begann auch unser Mailwechsel: Ich wollte wieder auf sein Boot, ein paar Tage Meeresluft schnuppern, das war vor mehr als einem Jahr. Seitdem schreiben wir uns. Ben kritisierte unsere Corona-Berichterstattung, ich antwortete ihm, eigentlich nur privat – aber dankenswerterweise hat Ben zugestimmt, unseren Briefwechsel zu veröffentlichen. Die folgenden Mails sind ein kleines Zeitzeugnis und geben einen Einblick, wie und warum die Berichterstattung bei Krautreporter so aussah, wie sie aussah. Sie sind aber auch – das hoffe ich zumindest – der Beweis, dass man völlig unterschiedlicher Meinung sein und trotzdem im Gespräch bleiben kann.

Als ich Ben das erste Mal im Dezember 2019 schreibe, befindet er sich gerade auf der ANAKIWA, einem Katamaran, den er vom Mittelmeer nach Deutschland überführen will. Für diese Tour sucht er Mitsegler, ich habe Lust und schreibe ihm, wir versuchen ein Datum zu finden, ich peile Anfang März 2020 an, dann kommt Corona, ich muss absagen und Ben schreibt mir eine Mail.

Ben, 6. März

Moin Rico,

vielleicht auch interessant für euch in der Redaktion? Der Professor war Amtsarzt in Schleswig-Holstein, Seuchenbeauftragter, saß in der EU-Kommission zum Thema Epidemien und ist offensichtlich ein Fachmann ohne finanzielle Agenda …?

Fair winds,

Ben

Ben hat diesen Artikel an seine Mail angehängt. Er stammt von einem gewissen Wolfgang Wodarg. Überschrift des Artikels: „Panikmacher isolieren“. Der erste Satz: „Dem Corona-Hype liegt keine außergewöhnliche medizinische Gefahr zugrunde.“

Ben schickt immer wieder Rundmails an seine Segelgäste. Seit fünf Jahren bietet er Segeltouren an. Der Clou daran: Es gibt keine festen Preise. Jeder kann so viel zahlen, wie er will. Deswegen hatte ich ihn auch damals auf seinem Boot besucht. Ben hat seinen Katamaran die Atlantikküste entlang in den Ärmelkanal gesteuert, von dort schreibt er nun im März seinen Segelgästen. Corona macht die Reise schwerer und schon jetzt spürt er, was die Pandemie für ihn finanziell bedeuten kann.

Rundmail von Ben, 20. März

Ihr Lieben,
36 Mitglieder
sprechen über diesen Artikel
Rede mit!

der Wetterbericht rät auch die nächste Woche eher zum Verweilen. Das passt wunderbar, da hier in Frankreich der oberste Feldherr Macron den „Krieg gegen das Virus“ ausgerufen hat. Ausgangssperre inklusive. (Hoffentlich braucht er keine Atomwaffen für sein Vorhaben …)

Auf dem Wochenmarkt sind mehr Polizisten als Kunden und ich darf nur mit einer (selbst geschriebenen) „Attestation“ einkaufen gehen, sonst kostet es 150 Euro Strafe. Naja, irgendwie will der Steuerausfall durch die stillgelegten Betriebe ja auch ausgeglichen werden.

Eigentlich auch für mich ein Grund, mir Sorgen zu machen: Die zunächst erfreulich sprudelnden Buchungen sind seit zwei Wochen gestoppt. Offensichtlich kann sich kaum noch jemand vorstellen, im August eine schöne Segelwoche auf der Ostsee zu verbringen. Zu aktuell die Angst und Sorge. Zu krass die Eingriffe in den Alltag und unsere Grundrechte?

Damit will ich nichts gegen gesunde Vorsichtsmaßnahmen wie Hände waschen und bei Krankheit zu Hause bleiben sagen. Aber wenn wir nicht acht geben, werden wir noch an unserer Angst vor dem Virus sterben.

Schon spannend, was wir Menschen mit unserer Vorstellung allein für ein Chaos anrichten können. Nur schade, dass wir nicht die gleiche Bereitschaft zum Ergreifen drastischer Maßnahmen zum Beispiel gegen die Klimakatastrophe an den Tag legen.

Herzliche Grüße von Bord der Anakiwa,

Ben

Ben ist in Deutschland angekommen. Er schreibt wieder eine Rundmail. Ein Ausschnitt:

Rundmail von Ben, 13. April

Zwölf Tage verbrachte ich eingesperrt allein an Bord. Mit Passierschein durfte ich zum Klo und zum Supermarkt. Illegal war meine Expedition zu Fuß in den Militärkomplex zur zuständigen Behörde für die Küstengewässer. Nach vielen Gesprächen und dank der herzlichen Unterstützung der örtlichen Wasserschutzpolizei bekam ich eine Sondererlaubnis zur Weiterreise.

Weitere endlose Telefonate mit den deutschen Behörden erwirkten eine weitere Sondererlaubnis zum Einreisen auf dem Seeweg nach Deutschland.

Leider durfte die – für den letzten Reiseabschnitt durch den Kanal, vorbei an Rotterdam und Bremerhaven – dringend benötigte Crew nicht anreisen.

Also eine weitere Soloreise. Natürlich nonstop, da die belgischen und holländischen Häfen für Yachten gesperrt sind. Vier Nächte ohne Schlaf, da einfach zu viel Verkehr war, um ANAKIWA länger allein zu lassen.

Ich schreibe euch diese Zeilen vom Tempelhof, wo ich mit meiner Familie wundervolle Ostertage verbringe.

Gemeinsam warten wir auf die sich anbahnenden „Lockerungen“ der Maßnahmen. Diese sind zumindest aus Sicht der Reisebranche dringend notwendig, sonst fällt einfach die gesamte Saison ins Wasser. Viele Betriebe werden das nicht überleben. Seit dem Lockdown herrscht auch bei mir vollkommener Buchungsstopp.

Ben leitet mir eine Mail weiter, die so vermutlich auch an andere Medien ging. Die Kritik, die er darin formuliert, richtet sich ausdrücklich an uns Krautreporter.
Der Vorwurf: Medien wie Krautreporter tragen zur allgemeinen Verunsicherung bei

Ben, 19. April

Liebe Journalist:innen,

ich beobachte mich dabei, wie sich mein Nutzungsverhalten eures Mediums im Verlauf der Corona-Krise verändert: Zunächst habe ich mich durch euch gut informiert gefühlt. Dann kamen bei mir durch Gespräche mit Juristen und Ärzten (unter anderem dem Klinikleiter eines großen Krankenhauses in NRW) aus meinem Umfeld erste Zweifel auf.

Mittlerweile nutze ich euer Angebot überwiegend dazu, mir einen Überblick zu verschaffen, wie die „gefühlte Mehrheit“ der jungen Bildungsschicht wohl zum Geschehen steht.

Ihr seid für mich von einem kritischen Informationsmedium zu einem Mainstream-Meinungsmedium geworden.

Ich vermisse Berichte über Andersdenkende, ohne diese gleich herabzusetzen. Ich vermisse bei euch vor allem Berichte über die durchaus auch unter Fachleuten kontrovers geführte Debatte, wie diese neue Situation zu bewerten ist. Und da meine ich nicht nur Virologen und Mediziner, sondern auch Juristen, Staatsrechtler, Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen.

Und ich nehme insgesamt eine Tendenz wahr, Menschen, die nicht die gefühlte Mehrheitsmeinung teilen und sich mit einer abweichenden Sichtweise zu Wort melden, als unverantwortliche, Menschenleben gefährdende Ignoranten und Spinner abzutun, anstatt sich gründlich mit ihren Argumenten zu beschäftigen.

Damit tragt ihr in meinen Augen zu einer Verstärkung der allgemeinen Verunsicherung bei.

Wer kann denn in dieser außergewöhnlichen Situation wirklich von sich sagen, er wüsste was jetzt das Richtige für unser Land ist? Wäre eine gewisse Demut und Vorsicht vielleicht angemessen? Und Kooperation zwischen den unterschiedlichsten Disziplinen? Unter Einbeziehung aller Betroffenen?

Ihr habt als Journalisten gerade eine hohe Verantwortung. Unterstützt ihr durch eure Arbeit die Wahrnehmung der verschiedensten gesellschaftlichen und fachlichen Wirklichkeiten? Sind eure Berichte hilfreich für eine möglichst fundierte Beurteilung der Situation? Wo tragt ihr zu einer offenen Debatte auch kontroverser Fachmeinungen bei?

In einer akuten Krise, wo ohne schnelles Handeln unmittelbare Gefahr droht, ist es sicher richtig, wenn wir nicht lange über den richtigen Kurs debattieren.

Aber momentan deutet alles darauf hin, dass wir uns jetzt vielleicht etwas gründlicher Gedanken über die Situation und die ad hoc ergriffenen Maßnahmen und deren Folgen machen sollten.

Bitte tragt zu diesem gesamtgesellschaftlichen Nachdenken bei.

Herzliche Grüße,

Ben Hadamovsky

Rico, 19. April

Danke für die Rückmeldung, Ben. Was genau meinst du denn? Was ist in Gesprächen mit Juristen und anderen klar geworden?

Ben, 19. April

Moin Rico,

kurz gesagt: dass der Umgang mit dem Virus extrem überzogen ist. Ja, das Ding ist ansteckend. Aber nicht dramatisch mehr als andere Grippeviren davor. Dass in den Augen der Ärzte unnötige Ängste geschürt werden.

Der Klinikchef (ehemaliger Kunde von mir, seine Frau ist die Patentante meines Sohnes) zum Beispiel meint, dass dieses Virus total gehypt sei. Originalzitat: „Die Katastrophenmediziner bei uns im Haus drehen jetzt alle durch. Gleichzeitig stehen die Betten leer und wir verschieben dringend nötige Operationen.“ Letztlich sei es wie bei einer normalen Grippewelle, nur dieses Jahr deutlich milder als zum Beispiel 16/17. Er hält die Maßnahmen der Regierung für medizinischen Unsinn und für die Gesellschaft sehr schädlich.

Die Juristen sind verzweifelt bis fassungslos, was da gerade geschieht. Hier ein Link von meinem befreundeten Staatsanwalt, der selber eher links ist, zu einer konservativen Seite: Verfassungsblog.de.

Liebe Grüße und gerne morgen mehr …

Ben
Es gab heftige Diskussionen über den richtigen Weg in der Pandemie

Ben, 11. Mai

Ben reagiert auf eine „Morgenpost“, den täglichen Nachrichten-Newsletter von Krautreporter. Darin schreibt Christian Fahrenbach: „Es muss eine verdammt schlechte Verschwörung sein, wenn Detlef D! Soost alles darüber weiß!‘: Dieser schlecht von mir online geklaute Spruch beschreibt eine der großen Logiklücken von Tausenden Menschen, die sich am Wochenende zu Corona-Protesten getroffen haben – wie kann es sein, dass so viele von der angeblichen Verschwörung …? Aber egal: Teils extreme und teils gewalttätige Proteste gegen die Corona-Maßnahmen in Deutschland werden immer mehr zum Problem.“

Moin Rico,

irgendwie macht mich eure Morgenpost heute gerade sehr traurig: Selbst das nicht als Hort der Verchwörungstheoretiker verschriene ZDF bringt zunehmend kritische Beiträge zum Umgang mit dem Virus bzw. zum Umgang des RKI mit den Zahlen. Siehe hier die ersten 5 Minuten.

Warum ist es gerade so extrem schwer, sich kritisch und wissenschaftlich mit den rudimentären Fakten zu beschäftigen, OHNE gleich als rechts, Staatsfeind oder dubioser Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt zu werden? Was ist da los?

Wundere mich über mein Land!

Traurig und ratlos,

Ben

Rico, 12. Mai

Hey Ben,

ich verstehe dein Problem nicht ganz. Wir begleiten die Corona-Krise kritisch; haben über Sozialarbeiter:innen berichtet, die nicht ein und aus wissen, über jene Kinder, die unter den Schulschließungen besonders leiden, haben beschrieben, wie das medizinische Personal allein gelassen wird, berichtet, dass die Corona-App eine Schnapsidee ist und auch eine Lesehilfe veröffentlicht, um sich selbst eine Meinung bilden zu können über die Zahlen, die kursieren.

In unserer Kommentarspalte wurde heftig und ausgiebig darüber diskutiert. Dafür hat uns übrigens niemand als rechts gebrandmarkt. Wer aber von einer Merkel-Dikaktur schwafelt, der nutzt Fascho-Vokabeln und, ja, den kann man dann auch mal als rechts bezeichnen.

Viele Grüße

Rico Grimm

Ben, 13. Mai

Lieber Rico,

alles gut, wenn es um eure Berichterstattung um die einzelnen Auswirkungen geht. Mich verwunderte die Grundstimmung von Angst, die ich bei dem Bericht des wieder steigenden R-Werts erlebe.

Vielleicht eins grundsätzlich: Aus Angst kommen selten kluge Entscheidungen. Das kenne ich extrem gut vom Segeln. Und ich erlebe unsere Gesellschaft gerade als sehr angstgesteuert. Ob berechtigt oder nicht, wäre ja gerade Teil einer spannenden Debatte. Leider geht schon bei der bloßen Fragestellung bei den meisten Menschen „die Klappe“ runter.

Zwischen „dafür“ und „dagegen“ ist irgendwie kein Raum mehr für ein Gespräch vorhanden. Ich habe übrigens nicht von einer „Merkel-Diktatur“ geschwafelt. Ich mag nur darauf hinweisen, dass es neben den Spinnern von der Aluhutfraktion und den Rechten durchaus ernst zu nehmende Menschen gibt, die den eingeschlagenen Weg versuchen kritisch zu begleiten (unter anderem Papier, Schäuble, um nur zwei zu nennen).

Ende April hatte Ex-Finanzminister und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble dem Tagesspiegel ein Interview gegeben, darin sagt er: „Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“

Der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier warnte in einem Interview Anfang April, dass die Freiheit in Gefahr sei, wenn sich die Einschränkungen durch Corona zu lange fortsetzten. Der wichtige SZ-Kolumnist und Jurist Heribert Prantl griff diesen Argumentationsstrang Anfang April auf und fragte sich, wo die Proteste gegen die Grundrechtseinschränkungen blieben.

Spannend finde ich die extreme Verkürzung der Debatte, wenn wir alle, die gerade auf die Straße gehen, als „rechts und Verschwörungstheoretiker“ abtun.

Dieses Phänomen kennen wir ja gut: Kluge Ideen wie Grundeinkommen und Plebiszite leiden immer wieder darunter: Nehmen sich die Rechten ihrer an, ist es nur noch schwer möglich, eine ernsthafte Auseinandersetzung darüber zu führen. Aber sind sie „schlecht“, nur weil auch Rechte sie gut finden?

Danke, dass du weiter mit mir im Dialog bleibst.

Herzliche Grüße, ohne Aluhut, aber weiter mit großem Interesse an der Vielschichtigkeit der Ereignisse,

Ben
Warum Krautreporter die Maßnahmen als Ganzes nicht in Frage gestellt hat

Rico, 13. Mai

Hey Ben,

dass mit der Merkel-Diktatur hatte ich null auf dich gemünzt, sorry, dass war missverständlich. Ich wollte bloß zeigen, warum manche Leute eben als rechts bezeichnet werden müssen. Ich fand, was Schäuble gesagt hatte, wunderbar! Das war ein super Interview, gerade die Klarstellung, dass das Grundgesetz keine absoluten Rechtsgüter kennt, auch nicht die Gesundheit der Menschen.

Wenn ich dich richtig verstehe, fragst du dich, warum wir nie die ganzen Maßnahmen in Frage gestellt haben? Weil sie aus epidemiologischer Sicht das Richtige sind, aber vor allem waren. Denn viele Einschränkungen scheint es ja nicht mehr zu geben. Wir haben über unsere Gesundheitsreporterin Silke Jäger Zugang zum ganzen weitreichenden Feld von Mediziner:innen, Epidemiolog:innen und Pfleger:innen, die sind Ende Februar, Anfang März alle aufgeschreckt – als sie verstanden haben, was diese Pandemie bedeuten kann. Wir sind uns einig, dass die Maßnahmen nicht ewig andauern können, aber dass sie nötig waren (und vermutlich bald und lokal begrenzt) wieder werden, steht in meinen Augen außer Frage. Die Alternative können wir in den USA und England beobachten, wo es einfach nicht aufhört.

Viele Grüße

Rico Grimm

Ben, 13. Mai

Moin Rico,

danke für die Antwort.

Naja, das mit den Einschränkungen kann man unterschiedlich sehen. Frag mal Lehrer. Für mich und andere „Segelschulen“ ist es ein Desaster. Ein Monat der nur fünf Monate langen Saison ist rum und verloren, und für den nächsten Monat bekommen wir immer noch keine klaren Ansagen, mit der Folge, dass niemand bucht, da niemand weiß, ob, wann und wie es mal losgehen kann … Manche rechnen immer noch mit einem Totalausfall für 2020. So pessimistisch will ich nicht sein, aber es sieht nach einem finanziellen Riesenloch aus. Das ist meine persönliche Situation. Extrem eingeschränkt, da praktisch mit Berufsverbot belegt.

Ja, ich frage mich, warum ihr die Maßnahmen nicht „in Frage“ stellt. Klar war es in der ersten Panik eine verständliche Reaktion und mögliche Strategie (andere Länder haben andere Strategien verfolgt und sind auch nicht untergegangen …). Ich frage mich, was sich da für ein Bild von Leben und Sterben zeigt. Vom Umgang mit Krankheit und Gesundheit. Vom Umgang mit Risiko allgemein und dann ganz persönlich. Aber vielleicht bin ich da auch aus Erfahrung etwas entspannter, denn wir haben so unendlich viele verschiedene Viren und Keime auf unserer Reise „besucht“ (und wurden auch oft von ihnen heimgesucht …) und uns so vielen „Gefahren“ ausgesetzt und leben immer noch …

Und ja, ich habe darauf auch keine pauschalen Antworten. Denke aber, dass da ganz viele spannende Fragen drin sind und wir sehr viel über uns, unseren Umgang mit Angst und Tod und unsere politischen und medialen Mechanismen lernen können.

Herzliche Grüße,

Ben

Ben, 26. Mai

Lieber Rico,

ich bin des großen C-Themas müde.

Ich würde zu gerne einfach wieder Segeln gehen und mit Menschen über Gott und die Welt sprechen.

Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich überdrüssig werde, mich weiter mit Corona-Themen zu befassen. Wie meine Sehnsucht nach „Normalität“ wächst. Nach Alltag. Wie ich nur noch die Überschriften überfliege.

Und trotzdem braucht es in einer Demokratie Austausch, in Frage stellen und Mitdenken. Und das nicht nur an der Oberfläche und solange es „Spaß“ macht.

Ich bin nun über einen extrem spannenden und langen Text gestolpert. Für Digital Natives vermutlich eine echte Zumutung: 17 Seiten A4. Aber dieser Text stellt wirklich wichtige Fragen. Auch dazu, wie wir in Zukunft mit ähnlichen Ereignissen umgehen wollen. Zugegeben, er ist auch unbequem.

Meine dringende Empfehlung: Lies ihn trotzdem.

Vielleicht bin ich ein Schwarzmaler. Vielleicht aber auch nur ein Mensch mit einem gewissen Gespür für Unstimmigkeiten? Für Umbrüche? Für Wandel? Ich zumindest erlebe die darin gestellten Fragen als immens wichtig! Entscheide selbst.

Danke für deine Bereitschaft, mitzudenken und dich anregen zu lassen.

Herzliche Grüße,

Ben

Im Sommer verliert sich unser Gesprächsfaden. Die Infektionszahlen sinken, ich fahre wieder in den Urlaub. Im August dann gehen in Berlin 30.000 und 35.000 Corona-Demonstranten auf die Straße, ohne Masken, ohne Abstand. In der Morgenpost vom 27. August schreibt Christian Fahrenbach: „Berlin verbietet Demo von Corona-Leugner:innen.“
Müssen wir mehr über die Kritiker:innen der Maßnahmen berichten?

Ben, 1. September

Liebe Esther, lieber Rico, lieber Christian,

Liebe Krautreporterinnen und Reporter,

in eurer Morgenpost habt ihr die Menschen, die am Samstag in Berlin auf der Grundrechte-Demo waren, pauschal als Corona-Leugner betitelt. Heute berichtet ihr einzig über die (auch in meinen Augen) hässlichen Randerscheinungen bei selbiger Demo.

Klar sind das Themen, aber was ist mit dem eigentlichen Anliegen der vielen friedlichen Menschen, die auch vor Ort waren? (Darunter meine Frau und 20 weitere Menschen aus meiner Gemeinschaft Schloss Tempelhof, welche ich unter diesem Begriff persönlich ungern diffamiert sehe und die im Übrigen alle nicht das Virus leugnen, sondern die einfach eine andere Ansicht zum Umgang damit haben!)

Was ist mit einem Bericht darüber, was sonst noch vor Ort geschah, wie es zum Beispiel eure Kollegen von Heise gut hinbekommen haben?

Für mich zeigt schon eure Wortwahl im Titel, dass euer Urteil über diese Menschen bereits fest steht: Alles Verwirrte, Spinner und Rechte.

Schade.

Dabei wären da so richtig spannende Themen für euch drin: Wie wäre es zum Beispiel mit einem Streitgespräch zwischen Christian Drosten und Prof. Bhakdi? Oder ladet doch mal den Arzt und SPD-Politiker Lauterbach zu einem Gespräch mit dem Arzt und SPD-Politiker Dr. Wodarg ein. Oder macht einen Bericht über die Gruppe von Juristen um Viviane Fischer, die privat einen Corona-Untersuchungsausschuss gestartet haben und die immer noch ausstehende Baseline-Studie durchführen lassen, um nur mal drei Ideen zu nennen.

Mein Eindruck ist, dass es gerade massiv gärt in unserem Land. Und zwar nicht nur rechts und bei den Spinnern. Die sind ja meist nur ein Indikator, dass wir ein Problem haben.

Andersdenkende schon im Titel pauschal zu diffamieren, ist in meinen Augen dagegen sehr simpel und nicht förderlich für eine konstruktive Auseinandersetzung. Diese brauchen wir aber dringend, sonst wächst die Politikverdrossenheit und Resignation und damit die Unzufriedenheit und Spaltung in der Gesellschaft weiter.

Ich würde mich freuen, wenn ich bei euch wieder mehr wirkliche Infos und differenzierte Berichte zu der Kontroverse finde, die sich gerade am Umgang mit Corona entzündet hat.

Schöne Grüße vom Meer,

Ben

Rico, 1. September

Lieber Ben,

danke für deine Mail, wir haben ja nun schon öfter darüber gesprochen. Werden wir konkret zu deinen Themenvorschlägen: Wodarg in einem Streitgespräch mit Lauterbach? Warum sollten wir das tun? Wodarg erzählt nachweislich Unsinn. Und wenn aber jemand Unsinn erzählt, dann ist es unser Job, das exakt so zu schreiben – oder eben dieser Person nicht noch Reichweite zu geben. Das Gleiche gilt für Bhakdi und Robert Kennedy und all die anderen, die sich gerade einen Namen machen bei den Menschen, die die Corona-Maßnahmen ablehnen.

Wobei ich mich immer frage, welche Maßnahmen eigentlich? Masken tragen und dass es keine Konzerte gibt? Wogegen wird da demonstriert? Gegen das Virus? Gegen wissenschaftliche Erkenntnisse? Ich verstehe, dass einige der Teilnehmer glauben, dass Corona ein großer Schwindel sei, um unsere Grundrechte einzuschränken. Wieso dann aber neben knallharten Neonazis demonstrieren, die diese Grundrechte nicht einschränken, sondern direkt komplett einkassieren würden, wenn sie es könnten, und auch Gemeinschaften wie eure in Tempelhof zerreiben würden. Das ist der entscheidende Punkt, für mich.

Wer auf eine Demonstration geht und dort zahllose Reichsflaggen sieht, steht vor einer Entscheidung: Laufe ich mit Neonazis mit? Gebe ich ihnen Legitimität durch meine Anwesenheit? Und wer dann mitläuft, hat eine Entscheidung getroffen, und angesichts unserer Geschichte, angesichts der rechtsextremen Morde und Attentate ist das eine Entscheidung, die ich persönlich nicht veredeln kann mit dem Label „anti-autoritärer Protest“ oder so etwas ähnlichem, wie es völlig unkritisch der Kollege von Heise tut, der übrigens auch nicht erwähnt, dass die komplette rechtsextreme Szene zu dieser Demo mobilisiert hat.

In Deutschland wird seit Monaten heftig darüber gestritten, was geht und was nicht (erinnere dich an Laschet vs. Söder, erinnere dich an die Diskussionen um den schwedischen Weg), deswegen verstehe ich nicht, wie du sagen kannst, dass es keine konstruktive Auseinandersetzung gebe.

Viele Grüße

Rico Grimm

Ben, 3. September

Lieber Rico,

danke für deine ausführliche Antwort und danke, dass wir weiter im Gespräch sein können. Trotz offenbar sehr unterschiedlicher Ansichten.

Das bisschen „Masken tragen und dass es keine Konzerte gibt“ bedeutet für viele meiner Künstlerkollegen schlicht das wirtschaftliche Aus. Daran hängt zum Beispiel mit den Tontechnikern (mein Schwager) die gesamte Veranstaltungsbranche. Ebenso die Traditionssegler-Branche ist schwer betroffen. Um nur zwei Bereiche zu nennen, die sich nicht so eben ins Digitale verlagern lassen. Und hast du mal mit Eltern oder Lehrern gesprochen? Die, welche zu mir kommen, sind verzweifelt! Ihren Kindern geht es NICHT gut. Dazu die so viel gelobten Pflegekräfte im Krankenhaus, die seit Monaten in Kurzarbeit sind …

Ich selbst kämpfe mit einem Gästerückgang von 50 Prozent, da fast nur noch Familien kommen. Die müssen sich das erstmal leisten können. Laut Verordnungen darf ich weiterhin nicht so arbeiten wie bisher. Mein ursprüngliches Konzept der Begegnung aus verschiedenen Schichten und Milieus und der finanziellen Solidarität ist damit Vergangenheit. Falls ich es mit einem coronabedingten Schuldenberg von bisher über 25.000 Euro überhaupt in die nächste Saison schaffe. Soviel vielleicht, warum die Situation nicht für alle gleich simpel ist!

Wenn wir die Gesellschaft in weiten Teilen so grundlegend umbauen, braucht es dafür einen demokratischen Prozess und nicht einfach mal so ein paar Verordnungen vom Herrn Gesundheitsminister. Dafür gehen immer mehr Menschen auf die Straße. Nach meiner Erfahrung leugnet niemand von ihnen das Virus, sondern will eine offene Debatte über den Umgang damit!

Prof. Bhakdi mag in deinen Augen Unsinn erzählen. Er führt aber gerade mit seinem Buch zu Corona die Spiegel-Bestsellerliste an und erreicht Hunderttausende mit seinen Videos. Viele Menschen beschäftigen sich mit diesem „Unsinn“. Das ist momentan gesellschaftliche Realität. Macht ihr es euch nicht etwas zu einfach, darüber nicht zu berichten? Wo bleibt der Artikel: „Wo Bahkdi Unsinn redet, einfach erklärt“? Auch ein Trump redet in meinen Augen oft nachweislich Unsinn und trotzdem müssen wir uns mit ihm auseinandersetzen und vor allem mit der Frage, warum so viele Menschen trotzdem zu ihm halten und ihn unterstützen. Das Problem verschwindet ja nicht dadurch, dass ihr nicht darüber berichtet.

Ist dir bewusst, dass am Samstag mindestens fünf Demos in Berlin von unterschiedlichen Gruppierungen angemeldet wurden? Die, auf denen die krassen Bilder entstanden sind, waren meines Wissens nicht von den Querdenkern veranstaltet, sondern von (dem Verfassungsschutz bekannten) rechten Gruppen und den Reichsbürgern. Vielleicht nur ein Zufall, dass dann ausgerechnet dort nur wenig Polizei anwesend war, um Ausschreitungen zu verhindern?

Wir kennen das Problem schon lange aus der Arbeit von Mehr Demokratie e.V.: Sobald sich zum Beispiel die AfD auch für das Thema Direktdemokratie und Volksentscheid erwärmt hat, schien es „verbrannt“ und nicht mehr gesellschaftsfähig. Aber ist eine Idee falsch, nur weil auch Rechte sie gut finden?

Mein Verständnis von Demokratie schließt das Gespräch gerade mit Menschen ein, die gänzlich anderer Ansicht sind. Selbst wenn diese in meinen Augen blanker Unsinn ist. Das ist oft schwer auszuhalten. Aber wie sonst kann ich mit ihnen in einem Land leben?

Zugegeben, ab da wird es unbequem. Ich fand meine Woche an Bord zusammen mit einem strammen Pegida-Anhänger auch eher anstrengend und gruselig. Und trotzdem hat sie mir manches an Erkenntnis gebracht, wie man zu so einer Haltung kommen kann. Ob – und was auf der Seite des Pegida-Menschen in der Woche passiert ist, kann ich nicht beurteilen. Eines scheint mir aber sicher: Hätte ich ihn wegen seiner Ansichten von Bord geschickt, wären wir jetzt auf jeden Fall Feinde …

Vielleicht würde ja ein Herr Bhakdi seine Ansichten verändern, wenn du mit ihm ins Gespräch gehst? Nach meiner Erfahrung lässt sich Veränderung in einem wirklichen Gespräch gar nicht vermeiden.

Herzliche Grüße vom Meer,

Ben
Wer wissen will, ob es regnet, muss nicht auf Youtube schauen, sondern aus dem Fenster gucken

Rico, 9. September

Lieber Ben,

vielen Dank für deine Mail; mir wird Einiges klarer. Hast du gesehen, dass heute die Veranstaltungsbranche unter dem Hashtag #AlarmstufeRot in Berlin zur Demo zusammenkommt? Sie sagen, wenn ich sie richtig verstehe, völlig zu recht, dass sie alleingelassen wurden und mehr Hilfe brauchen. Es gab ja schon eine ähnlich gelagerte Demo als die Reisebus-Branche mit ihren Bussen vor dem Kanzleramt vorfuhr.

In meinen Augen sind solche Demonstrationen nötig, sie sind Teil des demokratischen Diskurses, den du dir wünschst, und ich vermute, dass speziell Menschen wie du und dein Schwager, der Tontechniker, gute Chancen haben, die Öffentlichkeit zu erreichen. Diese Chancen werden allerdings zunichte gemacht, wenn neben Rechtsextremisten demonstriert und sich nicht klar abgegrenzt wird.

Niemand kann von einer demokratischen Öffentlichkeit ernsthaftes Interesse erwarten, wenn zuvor symbolisch der Schulterschluss mit totalitären Gruppen vollzogen wurde. Die Betonung liegt auf „symbolisch“ – Demonstrationen sind in meinen Augen reine politische Symbolik, sie verändern durch die Macht der Bilder in Abgrenzung etwa zum konstruktiven Diskurs unter vier Augen. Und da ist es dann auch ziemlich egal, ob es fünf verschiedene Demonstrationen gab; sie fanden alle zum gleichen Zeitpunkt statt. Das war Teil der Taktik, um maximale Aufmerksamkeit zu erreichen. Das ist Teil der Abwägungen, die wir als journalistisches Medium dann auch zu treffen haben, um unserer Verantwortung gerecht zu werden. Du fragst, ob eine Idee falsch sei, nur weil Rechte sie auch gut finden. Klare Antwort: nein. Aber welche Idee trug denn die beiden Demos? Was war die Botschaft? Ich verstehe es immer noch nicht; ging es um Grundrechte? Wieso dann die Nazis mit dabei? Ging es um wirtschaftliche Probleme? Wo hätte das für die breitere Öffentlichkeit deutlich werden sollen?

Das Bittere ist, dass unter den Demonstrant:innen an beiden Wochenenden Menschen mit konkreten Problemen waren, die einfach Hilfe brauchten. Eine Demonstration wie diese ist aber kein guter Ort, um dieses Anliegen rüberzubringen. Die Botschaft verschwindet im (schwarz-weiß-roten) Fahnenmeer. Dabei wäre doch für jeden sichtbar, dass Menschen wie du und dein Schwager die verhältnismäßig mit extremsten Folgen zu tragen habt. Wer einen Club betreibt, weiß immer noch nicht, wann und ob er wieder aufmachen kann. Aber, korrigiere mich, wenn ich da falsch liege: Gibt es nicht Hilfen für euch? Reichen die nicht aus?

Zu Bhakdi möchte ich auch noch zwei Worte sagen: Wir sind ein Medium, das 20 Artikel im Monat veröffentlicht, das heißt wir müssen extrem aussieben und immer wieder aus Neue entscheiden, ob wir unsere begrenzten Ressourcen so einem Thema widmen oder nicht. Ich werde konkreter: Wieso sollten wir den gefühlt 15. Faktencheck zu Bhakdi veröffentlichen (Beispiele hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier), wenn wir stattdessen auch Ideen haben, mit denen wir unseren Mitgliedern neue Blickwinkel ermöglichen können, die so noch nicht bei anderen Medien zu finden sind. Schau etwa mal auf diese Texte von Silke Jäger, die beschreibt, was wir seit dem Frühjahr gelernt haben oder diesen von Esther Göbel, die in aller Ruhe die medizinischen Hintergründe des Corona-Impfstoffes erklärt. Wir waren auch eines der wenigen Medien, die schon früh auf den Zusammenhang zwischen Umweltzerstörung und Infektionskrankheiten hingewiesen haben.

Wenn wir Bhakdi, der nachweislich Unfug erzählt, nun noch mehr Reichweite geben, werden wir dann unserer journalistischen Verantwortung gerecht? Dabei ist es auch egal, dass das Buch auf Platz 1 der Bestsellerliste ist (wo man auch schon mit weniger als 10.000 verkauften Exemplaren landen kann, so klein ist der Sachbuchmarkt!). Denn natürlich können sich schlicht auch viele Menschen irren. Wenn aber einer sagt: „Es regnet“ und einer sagt „Es regnet nicht“, dann müssen wir nicht beide Stimmen gleichberechtigt nebeneinander stellen, sondern einfach mal aus dem Fenster schauen und das Wetter prüfen. Das haben wir bei Bhakdi gemacht. Dabei würde ich übrigens sogar einen Unterschied machen: Wenn ich privat Herrn Bhakdi zufällig treffen würde, würde ich natürlich mit ihm sprechen, schon allein, um besser zu verstehen, was ihn antreibt. Aber als Journalist muss ich anders denken.

Rico

Ben, 10. September

Lieber Rico,

danke für deine ausführliche Antwort.

Ja, ich sehe immer wieder, dass einzelne Verbände und Interessengruppen auf ihre Situation und Betroffenheit durch die ergriffenen Maßnahmen aufmerksam machen. Und nein, die Corona-Soforthilfe in BW hat nicht mal für die Fixkosten der ausgefallenen Monate gereicht. Und wovon sollte ich in diesen Monaten dann noch leben? Also esse ich meine Rücklagen auf und mache Schulden, derweil die Lufthansa und andere mit meinem Steuergeld „gerettet“ werden.

Darum geht es mir aber nicht. Ich sehe eine grundsätzliche Missachtung unseres demokratischen Systems. Dies zeigt sich für mich sehr schön im derzeitigen Antrag der FDP, doch bitte die „pandemische Notlage von nationaler Tragweite“ aufzuheben, die ganzen derweil erlassenen Verordnungen aber nicht …

Und dagegen kann ich eben nicht demonstrieren, wenn ich bei den Busfahrern oder Schaustellern mitlaufe.

Bleibt natürlich die „rechte“ Gefahr bzw. das Landen in einer Schublade. Nun, in der ist Bhakdi ja auch gelandet, weil er andere Einschätzungen vertreten hat. Und das ganz ohne Fahnenrauschen am Rande einer riesigen Menschenmenge (die überwiegend keine Fahnen geschwungen hat! Aber die Fahnen kommen so schön dramatisch rüber im Fernsehen …). Schlicht weil er anderer Ansicht war bzw. im Irrtum ist.

Du bringst zu Bhakdi das schöne Beispiel mit dem Faktum des Regnens.

Prof. Bhakti hat nie behauptet, es würde nicht regnen. Er hatte nur eine etwas andere Einschätzung dessen, was dieser Regen so alles bewirken wird. Jetzt im nachhinein gibt selbst Herr Spahn ihm indirekt Recht, wenn er zugibt, dass er mit heutigem Wissen einiges anders machen würde.

Aber Herr Bhakdi bleibt weiter in der Schublade „Corona-Leugner“, anstatt ihn mit an den Tisch zu nehmen, das bisher Geschehene gemeinsam zu analysieren und bei weiteren Schritten vielleicht auch seine Stimme zu berücksichtigen bzw. zumindest zu hören.

Vermutlich werden sich bei jedem Wissenschaftler durch einen gründlichen „Faktencheck“ Unstimmigkeiten finden lassen. Vielleicht zeichnet es ja auch gerade gute Wissenschaft aus, dass nicht alle einer Meinung sind? Aber das ist dann natürlich für die Politik (und Medien?) unbequem. Da will man Sicherheit, um handeln zu können. Und dass wir in unsicheren Zeiten gerne zu einfachen „Wahrheiten“ neigen, wäre ja leider nicht neu.

Und ja, ich schätze euer Medium sehr. Trotzdem sehe ich eine Einseitigkeit wie zum Beispiel im – diesen Austausch auslösenden – Titel „Coronaleugner“ für die Demo oder in dem Artikel (War er von Silke Jäger?) über die Aussichten im Herbst, in dem viele Maßnahmen vorgeschlagen wurden, wie wir uns vorbereiten und schützen können, und in dem mit keinem Wort auf die Stärkung des eigenen Immunsystems eingegangen wurde. Dabei ist das ja einer der Hauptfaktoren bei einer Krankheit, wie wir schön sehen konnten bei Tönnies: Tausende infiziert, aber kaum einer ernstlich erkrankt. Die hatten wohl ein sehr robustes Immunsystem, sonst würden sie diese Arbeitsbedingungen schon nicht überleben! Diese Thema fehlt aber nicht nur bei euch, sondern in der gesamten Debatte im Umgang mit diesem Virus. Ein in meinen Augen sehr wichtiger und spannender Aspekt!

Darum mische ich mich ein. Ich könnte euch ja auch einfach wegklicken und mir sagen: „Ach, die Krautreporter, blicken es gerade halt mal nicht …“ und mich weiter der Rettung meines kleinen Forschungsprojekts und meiner Existenzgrundlage widmen.

Stattdessen suche ich das Gespräch. Das ist zugegeben unbequem, zeitaufwendig und birgt die Gefahr, dass sich mein Weltbild ändern könnte. Nimm meine Einmischung also als Kompliment.

Es bleibt meine Frage, wohin wir kommen, wenn wir mit den Menschen, die in unseren Augen irrige Ansichten vertreten, nicht mehr bereit sind zu reden? Auch und gerade als Journalisten?

Herzliche Grüße,

Ben

Rico, 30. September

Lieber Ben,

was mich interessiert, ist die Missachtung des demokratischen Systems, die du beobachtest. Du machst sie an den Verordnungen fest. An welchen genau? Oder anders gefragt: Worin genau besteht in deinen Augen die Missachtung des demokratischen Systems, wenn die Regierung in einer Notlage bei unzureichenden Informationen mit Verordnungen reagiert? Zumal wir hier differenzieren müssen, wer eigentlich die Regierung ist. Denn Ausführung der Infektionsschutzgesetze obliegt, soweit ich richtig informiert bin, den Bundesländern, und die hatten zum Teil sehr unterschiedlich reagiert. Was wäre für dich denn ein demokratisch legitimierter Prozess gewesen? Wann hättest du die Maßnahmen akzeptiert, auch wenn du ihnen nicht zustimmst?

Ein letztes Wort zu Bhakdi: Ich glaube schon, dass es sich hier um einen Regnet-Es-Fall handelt oder nicht. Denn wir müssen nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden, wem wir eine Plattform geben und wem nicht. Wenn wir schon bei der Vorrecherche merken, dass der potentielle Gesprächspartner immer wieder unbelegte, zum Teil auch widerlegte Thesen vorbringt, ist es dann verantwortlich ihm Reichweite zu geben? Nun könnte man einwenden, dass das nicht unser Job sei, dass das Publikum selbst entscheiden müsse, wer Recht hat. Aber kann das Publikum das hier? Ist es in der Lage, Lügen von Fakten zu trennen, wenn es um detaillierte epidemiologische Fragen geht?

In den letzten fünf Jahren haben wir gemerkt, wie sich in unseren Debatten etwas verschoben hat: Heute reicht es mit einer steilen These die Aufmerksamkeit des Publikums zu kapern und die Debatte nur noch darum kreisen zu lassen, ob die steile These nun stimmt oder nicht. Es reicht, Zweifel zu säen, um zu verhindern, dass die Gesellschaft in der Sache vorankommt. Und so sehe ich Herrn Bhakdi: als einen Mensch, der Aufmerksamkeit und dadurch auch Geld bekommt, dass er steile Thesen vertritt. Wieso soll sich der ganze Rest des Landes mit seinen Thesen auseinandersetzen, wenn eine saubere Recherche zu dem Ergebnis kommt, dass er mehrheitlich Unrecht hat? Wieso muss nicht Bhakdi Beweise und Belege vorbringen? Wieso verlangst du das nicht von ihm? Wenn einer daherkäme und Kohle als die sicherste, günstigste und allgemein beste Energiequelle unserer Zeit darstellt, würdest du bei so einer fragwürdigen Aussage doch vermutlich auch nach Belegen fragen, oder nicht?

Und wie gesagt: Ich spreche hier als Journalist, als Privatperson würde ich mich sofort mit Bhakdi an einen Tisch setzen, wenn es ein nicht-öffentliches Gespräch wäre.

Rico

PS: Das Kompliment gebe ich gerne zurück! Im Grunde würde ich diese Diskussion lieber auf einem Boot in der dänischen Südsee führen. So begann ja auch das Jahr und unser Austausch!
Nur wenn wir es schaffen im Gespräch zu bleiben, verlieren wir nicht unsere Menschlichkeit

Ben, 6. September

Lieber Rico,

danke nochmal für deine Mühe und deinen Einsatz, diesen Dialog nicht abreißen zu lassen. Ich muss zugeben, dass mich deine Idee und die Idee deiner Kollegen, unseren Austausch exemplarisch öffentlich zu machen, sehr gefreut und bewegt hat. Warum? Weil ich zwischenzeitlich das Gefühl hatte, dass wir uns einfach nicht mehr erreichen konnten. Dass die gegenteiligen Ansichten wechselweise als so „krass“ empfunden wurden, dass ein echtes Gespräch immer unmöglicher schien. Dass ihr mich als „Corona-Leugner und rechten Aluhutträger“ abschreiben würdet, mit dem zu reden, vergeblich wäre, weil ich in meiner guten alten Tradition gerne bereit bin, das bestehende Narrativ über die scheinbare „Wirklichkeit“ in Frage zu stellen. So wie ich das eben mit unseren kollektiven Glaubenssätzen über „Wirtschaft“ in der Vergangenheit gemacht habe und weiterhin mache.

Aber konkret zu deinen Fragen:

Ich sehe unser demokratisches System zum Beispiel an der Stelle missachtet, wo wir weiterhin eine „Notlage“ propagieren. Diese wurde ja ausdrücklich ausgerufen, um unser Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. Dem ist nun schon lange nicht mehr so (Kurzarbeit in Kliniken, leere Intensivstationen etc. zeugen davon).

Ich denke auch, dass es in einer ungewissen Lage zunächst gerechtfertigt war, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Für mich hätte es aber spätestens im Juni, als klar war, dass alle Parameter nach unten weisen, eine öffentliche Debatte mit möglichst vielen verschiedenen Experten aus nicht nur Gesundheit und speziell Virologie gebraucht, um zu entscheiden, wie weiter. Was ich nicht verstanden habe und auch heute immer noch nicht verstehe, ist, warum wir den Lockdown nicht schon im Februar gemacht haben? Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich um diese Zeit in Portugal von Bord die Nachrichten verfolgte und ganz klar den Gedanken hatte: „Also, entweder halten wir jetzt sofort für drei Wochen die Welt an und bleiben alle zuhause, oder wir bekommen ein Problem …“

Stattdessen geht das alte Spiel weiter: „Infektionszahlen“ werden alarmistisch veröffentlicht, ohne dazu zu sagen, wie viele Tests gemacht wurden und ohne zu berichten, wie viele Menschen davon wirklich erkranken. Also das große Thema: Angst.

Ich sehe mit großer Besorgnis das Bedürfnis nach „einfachen“ Lösungen für eine extrem komplexe Situation. Ich überspitze das jetzt mal bewusst, aber bei mir entsteht der Eindruck, dass wir den Boden rationaler, der realen Gefahr angemessener Handlungen an vielen Stellen schon deutlich verlassen haben. Dies zeigt sich schön im Umgang mit dem neuen „Fetisch Maske“: Nahezu alle Experten sind sich einig, dass so wie wir damit umgehen, es nichts bringt bzw. noch dazu kontraproduktiv ist (also sich ständig im Gesicht rumgrabbeln, Maske rauf, Maske runter, feuchte Masken tragen, nicht alle zwei bis drei Stunden die Maske wechseln etc.). Trotzdem wird das Tragen derselben nun zum Symbol des „guten, sich um seine Mitmenschen sorgenden Bürgers“ hochstilisiert (oder gar zum „Symbol der Freiheit“). Hauptsache, Mund und Nase sind bedeckt. Egal womit. Und diejenigen, die es wagen, dieses Symbol auf seine Sinnhaftigkeit hin zu hinterfragen, laufen Gefahr als potentielle Mörder stigmatisiert zu werden.

Das bringt mich zum nächsten Punkt: Die proklamierte Alternativlosigkeit. Wenn unsere Kanzlerin sagt, dass erst der Impfstoff es ermöglicht, wieder ein „normales“ Leben zu führen, dann werde ich hellhörig. Woher nimmt sie diese Sicherheit? Was, wenn wir keinen geeigneten Impfstoff auf die Schnelle entwickeln können? (Das dauert nicht umsonst meist Jahre, zumindest wenn es halbwegs nach wissenschaftlichen Standards geschehen soll. Was wenn das Virus bis dahin mutiert ist?) Meine Erfahrung ist, dass es immer mindestens zwei Wege gibt, um ein Ziel zu erreichen. Wenn also mit dem Argument der Alternativlosigkeit angefangen wird, sind wir meist nicht mehr weit von richtig schlechten Entscheidungen entfernt. Da wir eben nicht mehr verschiedene Blickwinkel einnehmen. Da wir die größte Stärke eines offenen Diskurses missachten: gemeinsam klüger zu sein als allein. Hier will ich auf einen Essay von Malte Nelles verweisen:

„Was ist im kollektiven Bewusstsein geschehen, dass wir uns in diese Lage manövrieren konnten, die eigentlich unseren pluralistischen Werten völlig widerspricht? Wissenschaftliche Vielfalt, Meinungsverschiedenheit, ein Diskurs, in dem die wichtigsten Punkte von und mit anerkannten Fachleuten vernünftig und transparent debattiert würden – dies müsste doch eigentlich dem Geist unserer Zeit gerecht werden, der in so vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen auf Transparenz, Gleichwertigkeit, Pluralismus und wissenschaftliche Evidenz drängt? Wie können wir bei der vorerst größten gesellschaftlichen Herausforderung, die die 2020er Jahre für uns bereit halten, auf einen Schlag in die Position kommen, unliebsame Positionen einfach aus dem Diskurs auszuschließen? Was ist geschehen?“

Ich denke, dies ist eine sehr spannende Frage. Und ich teile nach wie vor nicht deine Ansicht, dass wir Menschen, die in unseren Augen „Unsinn“ glauben und vertreten, einfach aus dem Gespräch ausschließen sollten. Ich mag sogar vehement das Gegenteil vertreten: Nur wenn wir es schaffen, auch mit diesen Menschen im Gespräch zu bleiben, verlieren wir nicht unsere Menschlichkeit! (Und damit meine ich bewusst keine „Talkshowformate“, wo wir uns mit Argumenten gegenseitig verprügeln zum Zweck der eigenen Profilierung, sondern wirkliche Gespräche, so wie wir sie zum Beispiel versuchen, bei mir an Bord zu führen!) Und das wäre dann auch schon der letzte – und vielleicht Hauptpunkt, wo ich die Demokratie in großer Gefahr sehe: Wenn schon die abweichende Sichtweise zum Ausschluss aus dem Gespräch führt, so wie du es für Prof. Bhakdi vorschlägst.

(Und ja, frag ihn doch in diesem öffentlichen Gespräch, auf das ich immer noch bei Krautreporter hoffe, nach seinen Belegen. Wo ist das Problem? Wenn er dann keine bringen kann, dann wird doch allein dadurch deutlich, ob – und wie gründlich er gearbeitet hat und wie glaubwürdig er ist? Aber dann hat er sich zumindest öffentlich als im Irrtum – oder als nicht glaubwürdig – dargestellt. So jedenfalls wird er für die einen immer mehr zum Märtyrer und er selbst hat keinen Anlass, seine Ansichten zu hinterfragen und damit seinen Horizont zu erweitern).

Rico, 14. Dezember

Lieber Ben,

seit unserem letzten Kontakt ist ja Einiges passiert: Die Bundesregierung hat Hilfen verabschiedet für Solo-Selbständige; wenn ich mich nicht täusche, müssten darunter ja auch du und die Akinawa fallen, oder? Kommen diese Hilfen bei dir und deinen Freunden aus der Veranstaltungsbranche an? Können sie etwas bewirken?

Viele Grüße,

Rico

Ben, 14. Dezember

Lieber Rico,

das freut mich zu hören.

Nein, die Hilfen kommen bei mir speziell leider nicht an. Der Grund: Die Höhe bemisst sich am Umsatz im Vergleichsmonat des Jahres 2019. Da habe ich aber den ganzen Winter über mein neues Schiff von Kroatien durch das Mittelmeer, den Atlantik rauf und über die Nordsee überführt und null Umsatz – dafür aber umso mehr Kosten gehabt.

Pech, sagt das Finanzministerium auf meine detaillierte Nachfrage. „Beantragen Sie doch Grundsicherung.“ Geht aber nicht, da dafür mein Katamaran zumindest auf dem Papier zu wertvoll ist (Grenze sind 60.000 Euro Kapital/Betriebsvermögen …). Insofern bin ich durch alle Netze gefallen, darf zwar nicht arbeiten, bekomme aber auch kein Geld. Super gemacht, die Hilfe! Mein persönliches, „nicht erstattungsfähiges Sonderopfer“ für dieses Corona-Experiment – wie es so schön im Amtsdeutsch heißt – fällt im Vergleich zu den meisten Mitbürger:innen richtig groß aus.

Eine kleine Unterstützung gibt es aber doch: Wenn ich meine gesamte Buchhaltung für 2020 umstelle und noch mal neu mache, kann mein Steuerberater mit viel Aufwand einen Zuschuss zu meinen Fixkosten beantragen. Leben werde ich trotzdem weiter von Luft und Liebe … So sitze ich jetzt, statt Vorträge zu halten und Menschen für ihre Träume zu begeistern (was ja wieder auf unbestimmte Zeit verboten ist), über einem verkackten Buchhaltungsprogramm und pflege meine Belege ein.

Herzliche Grüße vom Trockenen,

Ben

Zum Jahreswechsel rufe ich Ben nochmal an. Wir ziehen ein kleines Fazit dieses verrückten Jahres. Wir sind uns einig, dass uns dieses Jahr gezeigt hat, dass die Welt schneller aus den Fugen geraten kann, als gedacht und er sagt etwas, was inmitten einer Pandemie etwas suspekt wirkt auf den ersten Blick, auf den zweiten aber sehr wichtig sein kann: „Für mich ist nach wie vor das große Thema, das wir aus der Angst heraus handeln und nicht aus einer positiven Vision heraus.“

Redaktion: Phillip Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert